Weil ich Euch so viel zu sagen hatte, meine Besten, hätt ich beynah ganz geschwiegen. Wenig wolts nicht thun, und aus freudiger Unruhe verlohr ich den Muth zu Mehreren. Es gehörte wirklich Entschluß zum Erzählen, und wenn ich auch die Feder ansezte, so flogen so manche Bilder durch meine Seele, das Herz ward mir so voll, und dagegen alles so eng um mich her, daß ich wieder davon lief, und etwa zusah, ob der Bruder auch noch oben im Zimmer säß, und nicht gar indeßen nach Amerika zurückgegangen wäre. Jezt ist er nicht hier; er ward vorgestern nach Caßel abgerufen, und ich wende seine Abwesenheit an, von ihm zu reden. Diese drey Wochen über bin ich kaum von seiner Seite gekommen.
In der Nacht vom 3 bis zum 4ten May kam er an, ging aber ins Wirthshaus um uns nicht zu erschrecken. Morgens früh überraschte er uns alle im Bett. Mein erstes Erwachen war Gedanke und Gebet für ihn gewesen; indem hör ich eine fremde aber sanfte Stimme im Nebenzimmer, rufe unwillkührlich, wer ist da? und in dem Augenblick der ahndenden Erwartung erblick ich ihn und bin in seinen Armen. Von diesem ersten Zustand kan ich durchaus nichts deutliches sagen; so viel errinre ich mich, daß er sich mit der äußersten Mäßigung betrug, und sogar den Ton unterdrückte um nicht zu heftig zu werden; mir selbst damals unbewust machte ich die Bemerkung seiner vortheilhaften Verändrung, in dieser Gewalt über sich selbst, sah seine noch, so wie mich dünkte, durch den Ausdruck der Tugend verschönerte Figur, und wer beschreibt nun, wer fühlt mir nach die schnell gehäuften Vorstellungen seines Werths, meiner Liebe, der Gegenwart! Nach und nach wurden sie milder, und das reine einfache Gefühl der Freude machte mich froher, und so leicht, daß ich ohne unangenehme Bewegung mit ihm reden und ihn sehn konte. Wir fanden uns sogleich ganz wieder, und von beyden Seiten mit erhöhter Freundschaft und verdoppelter unzertrennlicher Bruder und Schwester Liebe. Er selbst weiß unserm Verhältniß keinen Nahmen zu geben, aber wies nun einmal, auch ohne Nahmen, festgesezt war, ward uns die übrige Zeit zu einer Kette von Glückseeligkeit, aus Vertrauen, Erzählen, gegenseitigen Beobachtungen, Achtung und Zärtlichkeit zusammengesezt, und sie muß bis ins unendliche fortgehn. Ein Bündniß für Ewigkeiten ist doch der schönste Gedanke, den Menschen haben können.
Er ist in nichts verändert, und doch in allen. Das heist, seine Anlagen sind vollkommen die nehmlichen, nur beynah jede bis zur Vollkommenheit ausgebildet; mehr bedurft es nicht ihn zu einen der ersten Männer zu machen. Daß ich ihn dafür halte, ist nicht Partheylichkeit, liebe Frau und liebes Mädchen. Es sind mehr kluge Leute auf meiner Seite als ich allein. Innerlich so schön wie äußerlich, sagte Spittler, und die Leßen: Ihr Bruder ist der edelste liebenswürdigste Mann, den ich kenne. Mit Wahrheit darf ich sagen, meine Lieben, mich bleuden bey ihm nicht die äußerlichen Vorzüge, und das wunderbare Talent an sich zu reißen, was ihm von allen Seiten den Beyfall der Welt zuzieht. Ich liebe ihn, weil ich ihn schäze, und schäze ihn vorzüglich um der unbefleckten veredelten Tugend willen, die er vom gefährlichen Schauplaz einer solchen Welt, wie die, die ihn umgab, mit zurückbringt. Religion, wahre tiefe Ehrfurcht gegen Gott, und das Gefühl seiner eignen Würde waren die Stützen derselben. Wie er aus England abreißte, ließ ihn einer seiner vornehmern Bekanten durch eine dritte Person dringend bitten, er möchte sich nicht verderben laßen. Er ließ ihm wieder sagen: es hätte keine Gefahr; er 28. MaiMai 1784
habe zu viel Stolz zur gemeinen Claße von Menschen überzugehn. Dieselben Bewegungsgründe haben seine Sitten, statt sie in der beständigen Gesellschaft von Seeleuten und Officieren rauher werden zu laßen, noch verfeinert; so wie überhaupt die ganze Delikateße seiner Empfindungen höher gestimt ist. Man sieht, er hat allerwärts die besten Menschen aufgesucht, und sich durch ihren Umgang genährt; durch den Aufenthalt unter Engländern vielleicht verwöhnt. Er ist nur zu sehr Engländer, denn Teutschland muß ihm nothwendig deswegen weniger gefallen. Er thut aber deswegen im Einzelnen niemand Unrecht, und hat viel zu viel Lebensart um sichs merken zu laßen. Diese ist ihm so natürlich geworden, und scheint so vollkommen ohne Prätension zu seyn. Überhaupt ist alles, was zu diesem lezten Artikel ins Capitel des folies gehört bis auf das Gesuchte elegante in der Kleidung sogar, rein verwischt. Also nichts mehr von Eigenliebe, die lächerlich oder lästig macht. Er hat nichts mehr von dem, was man unter Eigenliebe bezeichnet, und sein Stolz drückt niemand, weil er ihn über alles niedrige im Innersten seines Herzens erhebt. Seine Lebhaftigkeit, sein Feuer ist daßelbe; die Heftigkeit seiner Leidenschaften auch, aber die Stärke seines Geistes hält ihnen das Gleichgewicht, und das macht ihn zum Mann. Seine Figur hat sehr gewonnen, sie ist in der That das Bild seines Charakters. In der lezten Zeit ist er wieder stärker geworden; zum Beweiß leg ich seine Silhouette bey. So ist ohngefähr der Bruder, der mich so lieb hat, und ich ihn, daß wir uns beyde bis jezt noch das Liebste auf der Welt sind. Er prätendirt, ich würd es ihm immer bleiben, aber ich will nicht; und daß er mirs ist, darf ich ja wohl in 3 Wochen auch Euch nicht mehr laut sagen.
Am 14ten May gaben wir Böhmer in Nordheim Rendésvous. Die Leßen fuhr mit uns hin. Da hab ich alle Freuden des Wiedersehns noch einmal genoßen, aber ich war matt und krank am Abend, denn es war unstreitig der Tag meines Lebens, der durch die stärksten Empfindungen bezeichnet ist. Wie mich mein Bruder seinem Freund übergab — ich zwischen beyden — ihr Streit, wer mich am meisten liebte — die Leßen als theilnehmende Zuschauerinn — Ihr könt Euch nicht alles denken. Und dann zuweilen auch schmerzliche Augenblicke dazwischen, und noch andre, wo ich mein Glück hätte aufopfern können es dem Bruder zu geben. Nur nicht eine Minute Schwärmerey, denn ich fühlte nur, waß ich sah.
Dejeuners, Diners und Soupers ohn Maaß und Ende. Einige sehr merkwürdig und angenehm. Wir gaben an seinem Geburtstag ein großes Dejeuner, er ist wie der verlohrne Sohn fétirt worden. Mit Heynens machten wir einige angenehme Parthien. Mad. Heyne und er haben sich immer einander sehr wohl gefallen, und er hält sie auch noch für die artigste Frau in Göttingen. Therese bat mich schon vorher, sie so bald wie möglich mit ihm bekant zu machen. Es begab sich auch, daß sie zusammen bekant wurden — bis so weit, daß sie ihm freywillig einen Kuß gab, der erste, den ich ihr geben sah — alles sans consequence! Er schäzt sie sehr, er ehrt ihren Verstand, aber er fand, ohne im geringsten prévenirt zu seyn, beynah im ersten Nachmittage, die Coquette und den Freygeist in ihr. Sie will ja auch das lezte nicht verbergen; aber schweigt davon. Ich rede ungern über sie, weil ich so gern mit ihr rede, und wir freundschaftlich gegen einander sind. Nur war jene Entdeckung genug, sie meinem Bruder gleichgültig zu machen.
An einem Morgen gingen wir drey nach der Papiermühle, und brachten 6 Stunden allerliebst da zu. Laß Dir im Vorbeygehn von einer Gesellschaft erzählen, die wir da fanden. Hier hält sich eine Madam Elise Bethmann aus Frankfurt auf, um ihr Kind von Richter curiren zu laßen; eine gewaltig reiche Frau. Ihr Mann ist der erste Banquier in Teutschland. Natürlicher weise kan sie ihn nicht leiden, denn aus dem ungewißen Reichthum macht sie sich nichts, aber empfindsam ist sie wie alle empfindsamen Menschenkinder, die ich noch bis jezt sah, zusammen genommen; trägt 50zigerley Sächelchen in ihren allerdings sehr dicken Praestanten, Gemählde, Kupferstiche, Schächtelchen mit Haaren, Futtrale mit getrockneten Blumen, alte Reliquien usw. Durchaus keine eigne Idee in ihrem Kopf, in der Schule der Mad. la Roche erzogen, ihre große Anbeterin, und ohn einen Funken von dieser ihrem Guten, alle ihre weichlichen Spielereyen. Sie spricht nachtheilig von ihrem Mann, und ist eine schlechte Erzieherin, kneift zE. die Kinder in Gesellschaften; dafür strickt sie aber für 40 intime Freundinnen Geldbeutel. Diese, die wir schon vorher kanten, war mit einer kleinen Gesellschaft da, unter der ein Fremder war, nach dem sie sich, wie wir auf sie zu kamen, umkehrte und ihn Thurneysen rief. Mein Gott, sag ich, sind Sie Thurneysen? Albert von Thurneysen wars nicht; sondern ein junger Kaufmann aus Frankfurt, der an denselben Tag wirklich erwartet wurde und durch eine besondere Geschichte mir interreßant ward. Die Leßen traf ihn nehmlich in Zürich an; findet, daß er in allen eine frappante Ähnlichkeit mit Meyer hat, beschreibt ihm diesen, und Thurneysen Meyern; beyden wird blos gesagt, sie würden sich auf Reisen antreffen. Wie der Grosfürst in Studtgard war, sehen und erkennen sich diese beyden in einem großen Gedräng von Menschen, kommen auf einander zu: sind Sie Meyer? Heißen Sie Thurneysen? und so schließen sie eine ernsthafte daurende Freundschaft zusammen. Er war jezt auf dem Wege nach Hamburg und wollte Friedriken Böhmer in Göttingen besuchen. Mein Ausruf wunderte ihn anfangs, aber der Nahme C. M. war ihm auch bekant durch Meyer, kurz es war eine amüsante Sceene. Nicht daß er mir gefallen hätte; er fiel uns allen durch seine Affectation und seine Deklamationen ins Lächerliche. Nachher, wie ich ihn näher kennen lernte, söhnt ich mich mit ihm aus. Er las uns ein Gedicht von Göthens Mutter vor, und Therese sagte, mein Bruder habe indeßen ausgesehn wie einer, der sich vorm augenblicklichen Losschießen einer Pistole fürchtet. Hernach sagte er in der Hitze seiner Lebhaftigkeit zu dieser: der liebe Gott beging eine Ungerechtigkeit, wenn er Lavater sterben ließe. Da kam er freylich gewaltig an. Wie er hörte, daß ich Göthens Iphigenie im Manusskript hätte, wolt er sich todt freuen, kurz er war ein wenig ein Thor, indeßen doch ein sehr guter Mensch. Die Gleichheit mit Meyer ist außerordentlich bis auf Miene und Gebehrde. Es komt wohl daher, weil sie in einen Monat gebohren sind. Madam Bethmann frug mich indeßen: Haben Sie den Graf Schimmelmann schon gesprochen — nein, Madam ‒ ach der Handschuh seiner Schwester ist mir sehr theuer! und damit einen alten zerrißnen Handschuh aus der Tasche hervorgezogen, den sie herum präsentirte. Meinem Bruder zeigte sie einen alten Nagel, den sie von einem Spaziergang mitgebracht hatte. Wenn Euch dergleichen noch nicht vorgekommen seyn sollte, glaubt wenigstens, daß es wörtlich wahr ist.
Noch eine andre unique Parthie fine wurde mit Heynens gemacht. Madam hat sich in einem nahgelegnen Dorf in einem Baurenhaus ein Logis gemiethet, wo sie im Sommer zuweilen ihrer Gesundheit wegen einige Tage zubringt. Sie nent es ihre Villa, Therese das Schnitzelbutzhäusle. Therese schrieb ein Billet, in dem sie meinen Bruder und mich dringend einlud, sie und ihre Mutter dahin zu begleiten... Es war charmant, Mad. H. so liebenswürdig, wie es in ihrer Gewalt steht zu seyn; Therese beynah zu ausgelaßen. Nach dem Souper, das einem durchreisenden Fremden, mitten in einem Dorfe, höchst romantisch hätte scheinen müßen — liefen wir ins Dorf. In der Mitte waren 30‒40 Bauren versammelt. Du, sagte Therese zum Mädchen, daß uns begleitete, so laut, daß alle es hörten, wenn dich die Leute fragen, wer der Herr ist, sag nur, es wär der große Heiden General, der die vielen Leute in Amerika todtgeschlagen hat. Wir lachten uns halb närrisch drüber. Mad. begleitete uns ein Drittel des Wegs, ging allein zurück, und wir drey im Mondschein nach der Stadt, wo wir von den Reizen einer Sommernacht phantasirten und zulezt von Religion sprachen. Wie mein Bruder zu Haus kam, sagt er mir: Therese fängt an mir zu misfallen.
Ihr merkt doch wohl, daß ich nicht fertig würde vor meiner Hochzeit, wenn ich alles so weitläuftig beschriebe.
Wir scherzten oft drüber, daß wir immer zusammen gingen, und der Bruder so artig gegen die Schwester war, daß er für den Liebhaber hätte gelten können.
Der Beyfall, den er durchgehends erhält, ist wirklich ungewöhnlich; ich höre so viel davon, ich lese es in Briefen, merke es an allen. In England hat er vorzüglich sein Glück gemacht. In Hannover auch. Beyde Prinzen haben ihn rufen laßen. Wenn ihm das Glück geben könte! Das ist nach dem Sprichwort: Seifenblasen ist nichts als Seifenblasen!
Mein Bruder komt zu meiner Hochzeit zurück... Der Tag ist auf den 15ten Junius festgesezt. O feyert ihn in Euren Herzen als den, der mein künftiges Schicksaal bestimt; Gebt mir Eure Wünsche zum Hochzeitsgeschenk, Eure guten Wünsche, daß ich selbst die Gewalt, die ich in den Händen habe, es glüklich zu machen, gut anwenden möge. Diese Zeit über hatte ich keine, ernsthaft nachzudenken. Wozu noch denken, da ich schon genug überlegt habe, glaubt ich. Aber man entgeht ihm nicht. Jezt stellen sich meine neuen unbekanten Pflichten in Reihen vor mich hin. Auf einmal in ihre Mitte, auf einen andren Schauplaz versezt, und in einen ganz andern Cirkel von Menschen und herausgerißen aus dem meinigen. — Ja, es ist ein großer Schritt. Ich könt ihn nicht thun, wenn ich nicht unumschränktes Vertrauen auf den Mann sezte, dem zu Lieb es geschieht, wenn ich mich nicht mit der vollsten Überzeugung ihm hingäbe, daß er alles thun wird, ihn mir zu versüßen. O daß keine seiner und meiner Hofnungen getäuscht werden möge. Der Plan zu ihrer Erfüllung beschäftigte mich lange. Helfe mir Gott das Ideal ausführen, das vor meiner Seele steht, um uns beyde glücklich, und mich der Liebe meines Bruders, und meiner ewig theuren Freunde immer würdiger zu machen.
Lebt denn wohl, bis ich Euch in Clausthal wiedersehe! Sie komt da Euch mit eben dem Herzen entgegen, mit dem sie jezt von Euch scheidet,