Abschrift.
2 D. 85.08.
IX 824.
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Im Namen des Reichs.
Das Urteil des Königlich Preußischen Landgerichts I zu Berlin vom
18. Dezember 1907 wird nebst den zugrunde liegenden Feststellungen
aufgehoben; die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung
an die Vorinstanz, und zwar an das Königliche Landgericht III zu Berlin
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.
Zwar liegen auch diesmal wieder die Erwägungen der Strafkammer
auf tatsächlichem Gebiete, soweit sie zu der Annahme geführt haben, in
den Jahren 1903 bis 1907 sei die Gesundheitsschädlichkeit der Borsäure noch
nicht allseitig anerkannt gewesen und dem Angeklagten sei es nicht
als Fahrlässigkeit zuzurechnen, wenn er sich die ihm günstige
Auffas-
sung zu eigen machte. Die Freisprechung des Angeklagten würde daher,
wenn nur der Gesichtspunkt der §§ , des Gesetzes vom 14.
Mai 1879 in Frage käme, im Wege der Revision auch diesmal nicht
anfechtbar sein. Allein die Strafkammer hat nunmehr die in ihrer
er-
sten Entscheidung außer Acht gelassene Frage, ob der vom Angeklagten
vertriebene, von ihm aus borsäurehaltigem Eigelb hergestellte
Eier-
kognak, wenn nicht als gesundheitsgefährliches, doch als verfälschtes
Nahrungsmittel anzusehen sei und ob nicht ein Vergehen wider die
§§ und des Nahrungsmittelgesetzes vorliege, einer Prüfung
unterzogen und ist zur Verneinung dieser Frage auf Grund
rechts-
irriger Anschauungen gelangt.
Es wird erwogen, daß, wenn zum Kognak frische Eier verwendet
werden, im Zusatz von Borsäure „an sich nicht notwendig“ sei; hier aber
sei das Eigelb vom Angeklagten aus Krakau bezogen worden und habe
mithin eine weite Reise zurückzulegen gehabt: möglich sei daher, daß
der Angeklagte den Zusatz von Borsäure nur als
Konservierungs-
mittel in Anwendung gebracht habe. Borsäure wirke zwar nicht
bak-
terientötend, hebe die eingetretene Fäulnis zwar nicht auf,
verhin-
dere aber den Eintritt stinkender Fäulnis. Es sei allerdings nicht von
der Hand zu weisen, daß Borsäure auch deshalb dem Eigelb zugesetzt
werde, um da, wo alte und minderwertige Eier verwendet würden,
den Anschein eines normalen Eigelbes hervorzurufen, das sei aber hier
nicht erwiesen: die Behauptung des Angeklagten, daß er durch die
Bor-
säure nur die frische und gute Beschaffenheit des Eigelbes habe
erhal-
ten wollen, sei unwiderlegt, und gegen den Zusatz eines solchen
un-
schädlichen Konservierungsmittels sei „an sich“ nichts einzuwenden.
Diese Ausführungen des Vorderrichters weisen darauf hin, daß er nicht
sowohl die Frage, ob hier ein verfälschtes, als vielmehr die Frage, ob
ein verdorbenes Nahrungsmittel in den Verkehr gebracht sei, ins
Auge gefaßt hat. Von der Annahme, daß „minderwertige und alte“
Eier verwendet worden, ist die Anklage nicht ausgegangen. Ob der
Zusatz eines unschädlichen Konservierungsmittels an sich zulässig ist,
entscheidet nichts über die Frage, ob der Zusatz im gegebenen
Falle sich als Verfälschung darstellt. Der Umstand aber, daß das aus
Krakau bezogene Eigelb, wenn es auf der weiten Reise sich
konser-
vieren sollte, eines Borsäurezusatzes bedurfte, kann, falls der Zusatz
eine Verfälschung in sich schloß, unmöglich ins Gewicht fallen: denn
vom Willen des Angeklagten hing es ab, ob er das nötige Eigelb
grade aus Krakau beziehen wollte. Vielmehr war zu prüfen, ob bei
einem Getränk, das im Nahrungs- und Genußmittelverkehr als
„Eier-
kognak“ angeboten und vertrieben wird, das kaufende und
konsumie-
rende Publikum eine Zubereitung erwartet, die den Zusatz von
Bor-
säure, gleichviel zu welchem Zwecke, ausschließt, und ob, wo dennoch ein
solcher Zusatz stattgefunden hat, die Ware als verschlechtert oder
min-
derwertig gilt. Die Strafkammer verneint zwar auch diese Fragen,
aber wiederum auf Grund rechtlich unhaltbarer Erwägungen. „Dem
Einen“, führt sie aus, „ist es ganz gleich, was im Eierkognak enthalten
ist, es denkt gar nicht daran, wie die Zusammensetzung des
Eierkog-
naks ist, er will sich nur einen Genuß verschaffen und der ist ihm in
der Form, wie er ihm geboten wird, recht; der andere Teil des
Publi-
kums weiß gar nicht, was Borsäure eigentlich ist, es hält sie für
schad-
los, … hält den Borsäurezusatz schlimmstenfalls für ein unschuldiges
Konservierungsmittel; … ein Anlaß für das Publikum aus dem
Grunde, daß ein Konservierungsmittel zugesetzt ist, auf den Genuß
des Eierkognaks zu verzichten, besteht nicht.“ Es ist selbstverständlich, daß
Personen von so abnormem Geschmacke, daß „es ihnen ganz gleich ist“,
was im Eierkognak, den sie genießen, enthalten sein mag, bei der
Frage, welche Beschaffenheit der Konsument normalerweise von seinem
Nahrungsmittel erwartet, auszuschalten sind. Nicht minder ist es
selbst-
verständlich, daß, wo es sich gerade um die Entscheidung handelt, ob
dem Eierkognak Borsäure zugesetzt werden darf, nicht in erster
Linie gefragt werden kann, wie diejenigen hierüber denken, die
„garnicht wissen, was Borsäure eigentlich ist.“ Ob der Erfahrungssatz
zutrifft, daß derjenige Teil des Publikums, der nicht weiß, was
Bor-
säure ist, sie aber für unschädlich hält, „keinen Anlaß hat, auf den
Genuß von so versetztem Eierkognak zu verzichten“, ist nicht an dieser
Stelle zu entscheiden. Abwegig aber ist es, grade den Teil des
Publi-
kums ins Auge zu fassen, der über die Schädlichkeit des Zusatzes
mög-
licherweise irrt, und diejenigen Kreise unberücksichtigt zu lassen,
die wissen, was Borsäure ist, und auf dem entgegengesetzten
Stand-
punkt stehen, dem der Schädlichkeit, auf den, wie das Urteil selber
darlegt, die überwiegende Mehrheit der Fachmänner sich gestellt
hat. Und selbst wenn dieser Teil des Publikums mit seinem Glauben
an die Schädlichkeit der Borsäure nicht im Recht wäre, würde er
immerhin, insofern auch ihm der so versetzte Eierkognak zum
Kon-
sum dargeboten wird, nicht außer Betracht bleiben dürfen; denn hier
handelt es sich eben nicht darum, ob borsäurehaltiger Eierkognak als
ge-
sundheitsschädlich, sondern ob er nach den Anschauungen des Verkehrs
als verfälschtes Nahrungsmittel gilt. Daß der Zusatz schädlicher Stoffe
eine Verfälschung in sich schließt, ist allerdings fraglos, aber grade weil
der Begriff der Verfälschung sich nicht auf diesen äußersten Fall
be-
schränkt, sind für ihn noch besondere und schwerere Strafbestimmungen
getroffen. Gewiß kann nicht jede noch so geringe Abweichung von der
normalen Beschaffenheit oder Zubereitung dem Nahrungsmittel
un-
ter allen Umständen den Stempel eines verfälschten aufdrücken: wo aber
und wie die Grenze zu ziehen ist, darüber entscheiden die jeweiligen
Anschauungen derjenigen Verkehrskreise, innerhalb derer das
Nahrungs-
mittel vertrieben und verzehrt wird. Es gibt Nahrungs- und
Genussmit-
tel, bei denen nach der Verkehrssitte jeglicher Zusatz anderer Stoffe
als den allgemein bekannten und üblichen für unerlaubt git. In
der Mehrheit der Fälle aber liegt die Sache so, daß jedenfalls die
Ab-
wesenheit derartiger Zusätze oder Veränderungen erwartet wird,
die, wenn man von ihrem Vorhandensein wüßte, die Ware als
ver-
schlechtert oder doch geringwertiger erscheinen lassen würden. Es kann
dabei der Gedanke, daß möglicherweise der abnorme Zusatz eine Gefahr
für die Gesundheit birgt, sehr wohl eine Rolle spielen: schon die
Un-
sicherheit in dieser Richtung wird häufig für den Wert oder
Minder-
wert der Wäre in die Wagschale fallen. Aber die Möglichkeit einer
Gesundheitsschädigung ist keineswegs der einzige Maßstab dem
eine Bedeutung zukommt: schon das Bewußtsein, daß dem
Nahrungs-
mittel überhaupt ein fremdartiger Zusatz beigemengt ist, dessen
Natur und Bestimmung unbekannt ist, kann dem konsumierenden
Publikum den Anlaß zur Zurückweisung bieten, und auch in solchen
Fällen ist die Annahme einer Verfälschung nicht ausgeschlossen.
Nach diesen Gesichtspunkten wird von neuem zu prüfen sein, ob,
wenn nicht ein gesundheitsgefährliches, doch ein verfälschtes
Nahrungsmit-
tel vertrieben worden ist, sodann im Bejahungsfalle, ob der Angeklagte
wissentlich oder fahrlässig gehandelt hat, und endlich wird, falls strafbare
Fahrlässigkeit angenommen werden sollte, gegenüber dem
Eröffnungs-
beschlusse, der ein „fortgesetzt“ aus Fahrlässigkeit verübtes Vergehen
annimmt, zu erwägen sein, daß eine derartige Annahme rechtlich
aus-
geschlossen erscheint. (Vergl. Urteil des Reichsgerichts vom 14. Februar 1908
in der Strafsache wider die verehelichte D. Bergmann - Urteil des Königl.
Landgerichts II zu Berlin vom 20. September 1907; vergl. auch Entscheidungen
des Reichsgerichts in Strafsachen Band 30 Seite 103, Band 39 Seite 220).
gez. . . . . .
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