Digitales Reichsgericht


2 D 85/1908

Aktenzeichen 2 D 85/1908
ID / URL https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/b7ae0ceb-e0d8-4308-a25c-3ad08adfc99e/
Grunsfeld, Adalbert
Senat 2. Strafsenat
Vorinstanz Preußisches Landgericht I, Berlin
Rechtsgebiet Lebensmittelstrafrecht
Rechtsgebiet Strafrecht


Abschrift.
2 D. 85.08.
IX 824.


299


Im Namen des Reichs.


In der Strafsache gegen den Kaufmann in
Berlin


hat das Reichsgericht, Zweiter Strafsenat, in der Sitzung
vom 27. März 1908, an welcher teilgenommen haben:


als Richter:

  • der Präsident

  • und die Reichsgerichtsräte , ,
    , , , ,

als Beamter der Staatsanwaltschaft:

  • der Reichsanwalt ,

als Gerichtsschreiber:

  • der Amtsgerichtssekretär Franzen,


auf die Revision der Staatsanwaltschaft für Recht erkannt:


Das Urteil des Königlich Preußischen Landgerichts I zu Berlin vom
18. Dezember 1907 wird nebst den zugrunde liegenden Feststellungen
aufgehoben; die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung
an die Vorinstanz, und zwar an das Königliche Landgericht III zu Berlin
zurückverwiesen.


Von Rechts wegen.


Gründe.


Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.


Zwar liegen auch diesmal wieder die Erwägungen der Strafkammer
auf tatsächlichem Gebiete, soweit sie zu der Annahme geführt haben, in
den Jahren 1903 bis 1907 sei die Gesundheitsschädlichkeit der Borsäure noch
nicht allseitig anerkannt gewesen und dem Angeklagten sei es nicht
als Fahrlässigkeit zuzurechnen, wenn er sich die ihm günstige Auffas-
sung
zu eigen machte. Die Freisprechung des Angeklagten würde daher,
wenn nur der Gesichtspunkt der §§ , des Gesetzes vom 14.
Mai 1879 in Frage käme, im Wege der Revision auch diesmal nicht
anfechtbar sein. Allein die Strafkammer hat nunmehr die in ihrer er-
sten
Entscheidung außer Acht gelassene Frage, ob der vom Angeklagten
vertriebene, von ihm aus borsäurehaltigem Eigelb hergestellte Eier-
kognak
, wenn nicht als gesundheitsgefährliches, doch als verfälschtes
Nahrungsmittel anzusehen sei und ob nicht ein Vergehen wider die
§§ und des Nahrungsmittelgesetzes vorliege, einer Prüfung
unterzogen und ist zur Verneinung dieser Frage auf Grund rechts-
irriger
Anschauungen gelangt.


Es wird erwogen, daß, wenn zum Kognak frische Eier verwendet
werden, im Zusatz von Borsäure an sich nicht notwendig sei; hier aber
sei das Eigelb vom Angeklagten aus Krakau bezogen worden und habe
mithin eine weite Reise zurückzulegen gehabt: möglich sei daher, daß
der Angeklagte den Zusatz von Borsäure nur als Konservierungs-
mittel
in Anwendung gebracht habe. Borsäure wirke zwar nicht bak-
terientötend
, hebe die eingetretene Fäulnis zwar nicht auf, verhin-
dere
aber den Eintritt stinkender Fäulnis. Es sei allerdings nicht von
der Hand zu weisen, daß Borsäure auch deshalb dem Eigelb zugesetzt
werde, um da, wo alte und minderwertige Eier verwendet würden,
den Anschein eines normalen Eigelbes hervorzurufen, das sei aber hier
nicht erwiesen: die Behauptung des Angeklagten, daß er durch die Bor-
säure
nur die frische und gute Beschaffenheit des Eigelbes habe erhal-
ten
wollen, sei unwiderlegt, und gegen den Zusatz eines solchen un-
schädlichen
Konservierungsmittels sei an sich nichts einzuwenden.
Diese Ausführungen des Vorderrichters weisen darauf hin, daß er nicht
sowohl die Frage, ob hier ein verfälschtes, als vielmehr die Frage, ob
ein verdorbenes Nahrungsmittel in den Verkehr gebracht sei, ins
Auge gefaßt hat. Von der Annahme, daß minderwertige und alte
Eier verwendet worden, ist die Anklage nicht ausgegangen. Ob der
Zusatz eines unschädlichen Konservierungsmittels an sich zulässig ist,
entscheidet nichts über die Frage, ob der Zusatz im gegebenen
Falle
sich als Verfälschung darstellt. Der Umstand aber, daß das aus
Krakau bezogene Eigelb, wenn es auf der weiten Reise sich konser-
vieren
sollte, eines Borsäurezusatzes bedurfte, kann, falls der Zusatz
eine Verfälschung in sich schloß, unmöglich ins Gewicht fallen: denn
vom Willen des Angeklagten hing es ab, ob er das nötige Eigelb
grade aus Krakau beziehen wollte. Vielmehr war zu prüfen, ob bei
einem Getränk, das im Nahrungs- und Genußmittelverkehr als Eier-
kognak
angeboten und vertrieben wird, das kaufende und konsumie-
rende
Publikum eine Zubereitung erwartet, die den Zusatz von Bor-
säure
, gleichviel zu welchem Zwecke, ausschließt, und ob, wo dennoch ein
solcher Zusatz stattgefunden hat, die Ware als verschlechtert oder min-
derwertig
gilt. Die Strafkammer verneint zwar auch diese Fragen,
aber wiederum auf Grund rechtlich unhaltbarer Erwägungen. Dem
Einen, führt sie aus, ist es ganz gleich, was im Eierkognak enthalten
ist, es denkt gar nicht daran, wie die Zusammensetzung des Eierkog-
naks
ist, er will sich nur einen Genuß verschaffen und der ist ihm in
der Form, wie er ihm geboten wird, recht; der andere Teil des Publi-
kums
weiß gar nicht, was Borsäure eigentlich ist, es hält sie für schad-
los
, hält den Borsäurezusatz schlimmstenfalls für ein unschuldiges
Konservierungsmittel; ein Anlaß für das Publikum aus dem
Grunde, daß ein Konservierungsmittel zugesetzt ist, auf den Genuß
des Eierkognaks zu verzichten, besteht nicht. Es ist selbstverständlich, daß
Personen von so abnormem Geschmacke, daß es ihnen ganz gleich ist,
was im Eierkognak, den sie genießen, enthalten sein mag, bei der
Frage, welche Beschaffenheit der Konsument normalerweise von seinem
Nahrungsmittel erwartet, auszuschalten sind. Nicht minder ist es selbst-
verständlich
, daß, wo es sich gerade um die Entscheidung handelt, ob
dem Eierkognak Borsäure zugesetzt werden darf, nicht in erster
Linie gefragt werden kann, wie diejenigen hierüber denken, die
garnicht wissen, was Borsäure eigentlich ist. Ob der Erfahrungssatz
zutrifft, daß derjenige Teil des Publikums, der nicht weiß, was Bor-
säure
ist, sie aber für unschädlich hält, keinen Anlaß hat, auf den
Genuß von so versetztem Eierkognak zu verzichten, ist nicht an dieser
Stelle zu entscheiden. Abwegig aber ist es, grade den Teil des Publi-
kums
ins Auge zu fassen, der über die Schädlichkeit des Zusatzes mög-
licherweise
irrt, und diejenigen Kreise unberücksichtigt zu lassen,
die wissen, was Borsäure ist, und auf dem entgegengesetzten Stand-
punkt
stehen, dem der Schädlichkeit, auf den, wie das Urteil selber
darlegt, die überwiegende Mehrheit der Fachmänner sich gestellt
hat. Und selbst wenn dieser Teil des Publikums mit seinem Glauben
an die Schädlichkeit der Borsäure nicht im Recht wäre, würde er
immerhin, insofern auch ihm der so versetzte Eierkognak zum Kon-
sum
dargeboten wird, nicht außer Betracht bleiben dürfen; denn hier
handelt es sich eben nicht darum, ob borsäurehaltiger Eierkognak als ge-
sundheitsschädlich
, sondern ob er nach den Anschauungen des Verkehrs
als verfälschtes Nahrungsmittel gilt. Daß der Zusatz schädlicher Stoffe
eine Verfälschung in sich schließt, ist allerdings fraglos, aber grade weil
der Begriff der Verfälschung sich nicht auf diesen äußersten Fall be-
schränkt
, sind für ihn noch besondere und schwerere Strafbestimmungen
getroffen. Gewiß kann nicht jede noch so geringe Abweichung von der
normalen Beschaffenheit oder Zubereitung dem Nahrungsmittel un-
ter
allen Umständen
den Stempel eines verfälschten aufdrücken: wo aber
und wie die Grenze zu ziehen ist, darüber entscheiden die jeweiligen
Anschauungen derjenigen Verkehrskreise, innerhalb derer das Nahrungs-
mittel
vertrieben und verzehrt wird. Es gibt Nahrungs- und Genussmit-
tel
, bei denen nach der Verkehrssitte jeglicher Zusatz anderer Stoffe
als den allgemein bekannten und üblichen für unerlaubt git. In
der Mehrheit der Fälle aber liegt die Sache so, daß jedenfalls die Ab-
wesenheit
derartiger Zusätze oder Veränderungen erwartet wird,
die, wenn man von ihrem Vorhandensein wüßte, die Ware als ver-
schlechtert
oder doch geringwertiger erscheinen lassen würden. Es kann
dabei der Gedanke, daß möglicherweise der abnorme Zusatz eine Gefahr
für die Gesundheit birgt, sehr wohl eine Rolle spielen: schon die Un-
sicherheit
in dieser Richtung wird häufig für den Wert oder Minder-
wert
der Wäre in die Wagschale fallen. Aber die Möglichkeit einer
Gesundheitsschädigung ist keineswegs der einzige Maßstab dem
eine Bedeutung zukommt: schon das Bewußtsein, daß dem Nahrungs-
mittel
überhaupt ein fremdartiger Zusatz beigemengt ist, dessen
Natur und Bestimmung unbekannt ist, kann dem konsumierenden
Publikum den Anlaß zur Zurückweisung bieten, und auch in solchen
Fällen ist die Annahme einer Verfälschung nicht ausgeschlossen.


Nach diesen Gesichtspunkten wird von neuem zu prüfen sein, ob,
wenn nicht ein gesundheitsgefährliches, doch ein verfälschtes Nahrungsmit-
tel
vertrieben worden ist, sodann im Bejahungsfalle, ob der Angeklagte
wissentlich oder fahrlässig gehandelt hat, und endlich wird, falls strafbare
Fahrlässigkeit angenommen werden sollte, gegenüber dem Eröffnungs-
beschlusse
, der ein fortgesetzt aus Fahrlässigkeit verübtes Vergehen
annimmt, zu erwägen sein, daß eine derartige Annahme rechtlich aus-
geschlossen
erscheint. (Vergl. Urteil des Reichsgerichts vom 14. Februar 1908
in der Strafsache wider die verehelichte D. Bergmann - Urteil des Königl.
Landgerichts II zu Berlin vom 20. September 1907; vergl. auch Entscheidungen
des Reichsgerichts in Strafsachen Band 30 Seite 103, Band 39 Seite 220).


gez. . . . . .
Dr. . .